Donnerstag, 30. Oktober 2014

Das Marihuana High: Nur ein weiterer veränderter Bewusstseinszustand

Veränderte Bewusstseinszustände und die westliche Kultur

Es gibt normales Bewusstsein und es gibt das Marihuana High. Und high zu sein ist ungefähr so wie geistig etwas verrückt und retardiert zu sein.
Kurz gefasst ist dies immer noch die Einstellung der Mehrheit in unserer Gesellschaft, wenn es um das Marihuana High geht. Diese Sichtweise wurzelt in der allgemeinen Einstellung der modernen westlichen Kultur in Bezug auf veränderte Bewusstseinszustände, meint der amerikanische Psychologe Charles Tart:
Innerhalb der westlichen Kultur haben wir eine starke negative Einstellung zu veränderten Bewusstseinszuständen: es gibt den normalen (guten) Zustand des Bewusstseins, und es gibt pathologische Änderungen im Bewusstsein. Die meisten Menschen machen keine weiteren Unterscheidungen”.
(Charles Tart (Hg.) Altered States of Consciousness, Harper Collins, San Francisco 1969/1990, Seite 2.)

Die vielen Zustände des Bewusstseins

Aber sind veränderte Bewusstseinszustände immer auch pathologisch? Wenn wir uns daran erinnern, welche Transformationen unser Bewusstsein fast täglich durchmacht, wird offensichtlich, dass diese Ansicht falsch sein muss. Jede Nacht fallen wir alle in einen merkwürdigen Bewusstseinszustand, träumen unlogische Narrationen und durchleben kompliziert verwebte und durch lebhafte Bilder begleitete Handlungsstränge. Wir gehen in einen Zustand über, der eher einem Trip auf einem magic mushroom ähnelt – und diese Transformation ist natürlich und wiederkehrend.
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Albert Fourié 1854-1937, “Schlafende Eva”. Während einer normalen Lebenszeit verbringen wir ca. 6 Jahre im Schlaf.
Während des Schlafes gehen wir durch verschiedene REM-und andere Phasen, in denen sich unser Bewusstsein in etwas Wildes und Mysteriöses verwandelt. Doch erleben wir auch viele Arten von veränderten Bewusstseinszuständen, während wir wach sind: wenn wir von jemandem angegriffen werden, fällt unser Bewusstsein automatisch in einen „fight-or-flight“-Modus, in welchem wir extrem aufmerksam sind und uns auf den Gegner und möglich Kampf-oder Fluchtwege hyperfokussieren. Wenn wir fernsehen, geraten wir oft in einen merkwürdigen Zustand zwischen Trance und Hypnose. Beim Tanzen zu elektronischen Musik während einer langen Klubnacht geraten wir noch tiefer in einen Trancezustand. In unserem Leben durchleben wir normalerweise tausende von mehr oder weniger anhaltenden veränderten Bewusstseinszuständen der Ekstase beim Orgasmus. Wir erleben viele andere Formen der Entzückung, wenn wir uns verlieben, wenn wir in einer Achterbahn sitzen (was leider oft ungefähr das Gleiche ist), aber wir erleben auch anhaltende Zustände der tiefen geistigen Entspannung in einer Sauna, im Mineralbad, oder während einer Massage.
Wir alle schätzen viele dieser Zustände. Sie können funktionell nützlich und wie die extreme Tunnelsicht bei einem Angriff für das Überleben notwendig sein. Diese veränderten Bewusstseinszustände kommen natürlich vor, und wir verstehen für gewöhnlich, wie sie auf viele Weisen bereichernd sein können. Wir akzeptieren Zustände wie die Ekstase als wesentliche und bedeutungsvolle Aspekte unseres Lebens.

Das Potenzial von veränderten Zustände des Bewusstseins

In einigen Aspekten sind veränderte Bewusstseinszustände besser als das rationale Wachbewusstsein, welches wir als „normal“ betrachten. Bildgebende Verfahren der Hirnforschung haben bereits ein Ansatz dazu geliefert, um auf die Frage von Da Vinci zu antworten, warum wir manchmal Dinge klarer in unseren Träumen sehen können, da sie während REM Schlafphasen eine starke Stimulierung in den Gehirnarealen aufzeigen, die für die Verarbeitung visueller Reize zuständig sind. (Allan J. Hobbson, The Dream Drugstore. Chemically Altered States of Consciousness, MIT Press. Cambridge/MA, 2001) Dies würde erklären, warum so viele Kreative oder auch Wissenschaftler häufig berichten, wie sie von ihren Träumen Gebrauch machen können.
Kurz gesagt also durchlaufen wir verschiedene natürliche Transformationen des Bewusstseins, und offensichtlich können wir von diesen Änderungen enorm profitieren. Unser Bewusstsein hat die natürliche Fähigkeit sich zu verwandeln, und während einige veränderte Zustände wie das Halluzinieren aufgrund eines starken Fiebers pathologisch sein können, sind andere klar gesund und nützlich.
Aber ist nicht es unnatürlich, einen veränderten Bewusstseinszustand künstlich herbeizuführen?

Tiere und veränderte Bewusstseinszustände

Seit Tausenden von Jahren haben Menschen aller Kulturen Methoden erfunden, ihre Bewusstseinszustände mit Rhythmen, Musik, Tanzen, und Meditationtechniken zu verändern, und sie nutzten dabei oft auch psychoaktive Substanzen wie Cannabis, Alkohol, Psylopsybin-Pilze, Ayahuasca, oder Ibogaine. In unserer modernen, westlichen Kultur neigen wir häufig dazu, diese Methoden als überholte Rituale „primitiver“ Kulturen anzusehen, aber ein genauere Hinsehen zeigt, dass weltweit Hunderte von Millionen Menschen eine Menge von Techniken und Substanzen verwenden, um ihr Bewusstsein zu verändern. Sie verwenden Musik und Substanzen wie Alkohol oder MDMA, um einen ekstatischen Trancezustand zu erreichen, nutzen raffinierte Yoga-Techniken, um in einen Zustand der tiefen Meditation zu kommen, und Mediziner verwenden Hypnose für eine Vielfalt von Behandlungen.
Die evolutionäre Perspektive zeigt, dass alle Arten systematisch psychoaktive Substanzen zu sich nehmen und ihr Bewusstsein damit verändern. Einige Arten von Schmetterlingen betrinken sich mit dem Alkohol vergärender Früchte, Katzen essen bevorzugt Katzenminze, was sie sexuell erregt, Ziegen essen Kaffee-Beeren, und spielen daraufhin hyperaktiv und übermütig. Der Psychopharmakologe Ronald K. Siegel hat Tiere und deren Gebrauch von psychoaktive Werken seit Jahren studiert. Sein Fazit ist:
In jedem Land und bei fast jeder Tierart habe ich Beispiele nicht nur für den zufälligen, sondern auch den absichtlichen Gebrauch von Drogen gefunden. Tausende von Fälle, die ich untersucht habe, haben mich davon überzeugt, dass das Suchen nach Drogen ein natürliches Verhalten im Tierreich ist.”
(Ronald K. Siegel, Intoxication. The Universal Drive for Mind-Altering Substances, Park Street Press, Vermont 1989, S.13)
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Erdbeerbaumfalter betrinken sich gerne.
Siegel glaubt, dass die Suche nach Rausch fast wie ein vierter Trieb angesehen werden kann (zusätzlich zu Trinken, Essen, und Sex) Essen und Geschlecht sind), und dieser einen evolutionären Anpassungsvorteil für eine Art haben muss.
Veränderte Bewusstseinszustände gehören zu unserer Existenz und definieren uns – und genauso gehört es zu unserer Natur, wissbegierig zu sein und solche Zustände selbst zu veranlassen. Sie können nützlich und bedeutungsvoll sein. Einige von ihnen sind pathologisch, andere sind es nicht. Offensichtlich bringen auch potentiell nützliche veränderte Bewusstseinszustände Gefahren mit sich. Auch wenn einige kognitive Fähigkeiten (wie die Fähigkeit zur Einbildungskraft während des Träumens) zeitweise verbessert werden können, sich andere vermindert. Schlafen und Träumen mag sehr nützlich sein, aber man sollten es nicht tun, während man ein Auto fährt oder eine Mathematikprüfung bestehen muss.

Eine neue Perspektive auf das Marihuana High

Ein Marihuana High kann viele kognitive Funktionen zeitweise verbessern. Benutzer berichten unter anderem über eine Hyperfokussierung der Aufmerksamkeit, eine verbesserte Fähigkeit, sich an lange vergangene Ereignisse zu erinnern, Muster zu erkennen, schnelle assoziative Gedankengänge zu durchlaufen, zu introspektiven und anderen Einsichten zu gelangen, und andere Menschen besser empathisch zu verstehen. Andere kognitive Funktionen können sich während eines Highs verschlechtern; die Wahrnehmung der Zeit kann sich verzerren und die Fähigkeit zum „Multitasking“ kann schlechter werden, was in bestimmten Situationen zu Gefahren führen kann. Wer das High positiv verwenden will, wird lernen müssen, wie man es richtig verwendet. Dazu muss er auch wissen, wie man es in seine Existenz integriert – so wie wir alle lernen müssen, die vielen anderen veränderten Bewusstseinszustände anzuerkennen und zu integrieren, die uns definieren. Eine Routine wie zum Beispiel das Führen eines Traumtagebuchs kann helfen, Träume in deine Existenz bedeutungsvoller zu integrieren; so kann es auch helfen, sich während eines Highs Notizen von Einsichten und Ideen zu machen.
Wenn wir das High als Bereicherung unseres Lebens erfahren wollen, müssen wir unser Denken über unser Bewusstsein verändern. Wir sollten zuerst akzeptieren, dass wir weit mehr sind als bloß vernünftige, logisch denkende Wesen und sollten dabei das verdrehte Selbstbild über die Natur unseres Bewusstseins aufgeben, welches in der westlichen Kultur vorherrscht.

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